Zäsur – Beobachtungen und Bedenken in Zeiten der Pandemie

Essay „Gemeinsam im Feld“

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Gemeinsam im Feld

Corona. Zuerst nur in China. Beim Abendessen spricht man darüber und sagt: Unglaublich, was in Wuhan geht. Und ist noch gelassen. Nur in den Sportferien in den Bergen hört man hin und wieder Stimmen raunen: Es mute sonderbar an, in Seilbah- nen Chinesen dicht auf dicht gegenüberzustehen. Aber noch lacht man verschämt, ist relativ gelassen. Kurz darauf nicht mehr, gefühlt auf einen Schlag. Und plötzlich ists, als hätten einige Menschen zum ersten Mal vernommen, dass es den Tod gebe, dass er gleich einer Streubombe jede und jeden treffen kann; und jederzeit auf irgendeine Weise. Und obwohl nun auch unsere Gesellschaft alles unternimmt, dem Virus entgegenzuwirken, verhalten sich einige Menschen so, als liesse sich der Fakt, dass wir endlich sind, aus der Welt schaffen. Es macht wohl Sinn, dass uns diese Sicherheit wieder und wieder neu erscheint — und dass sie wieder und wieder vergessen geht. Wir könnten nicht leben und wirken, stände uns konstant vor Augen, dass wir inmitten der Toten stehen, sie inmitten von uns. «Was wir sind, werdet ihr sein. Was ihr seid, waren wir einst», steht in römischen Katakomben geschrieben.

Aber was, wenn es sich genau anders rum verhielte? Wenn wir besser zu leben wüssten, stünde uns der Tod vor Augen? Nicht als der grosse Feind, sondern als Leitplanke, die hilft, radikaler zuzugreifen, wenn etwas gut ist, radikaler zu entscheiden, DASS etwas gut ist; ohne Wenn und Aber?

Beides nicht des Schweizers Stärke; die geht eher so: An einer feinen Einladung auftauchen und vor den Gastgebern über Müdigkeit jammern; an einer Tanzfläche ausharren, weil die Musik nicht gänzlich dem persönlichen Geschmack entspricht; einen traumhaftem Ort wegen ein paar Regentropfen verlassen; eine paradiesische Terrasse besitzen, sie aber nie bespielen. Übersättigung, Wohlstand. Sie verhelfen weder zu Dankbarkeit noch zu Hingabe. Dankbarkeit, Hingabe? Was sind das für Wörter! Sie sind verpönt. Ein religiöser Mensch wird dahinter vermutet. Kann aber religi- ös sein, wer sich für intelligent hält? Nein, lautet das heutige Credo, ein Lifestyle-Produkt wie die Freitagtasche.

Dankbarkeit und Hingabe aber gehen auch ohne Kardinalsmütze und Beichtstuhl, ohne männliche Verkleidungsshow der katholischen Kirche, ohne Gehabe von Religionsführern. Es reicht, erneut an einem Bett zu stehen, in dem ein geliebter Mensch seine letzten Atemzüge tut. Es reicht zu sehen, was Krankheit und Wahnsinn mit ihm anstellen. Es reicht, ihm auf seine Frage, ob er wohl nochmal über den Berg komme, mit einer Gegenfrage zu antworten: Ob er es denn nochmal schaffen wolle. Und wenn auf diese Frage nur ein Achselzucken folgt, zu sagen, unvorbereitet, aus dem Moment heraus: «Dann geh, wenn du willst; lass los, es ist gut.»

Keine Sommerwiese, auf der Menschen zusammenkommen und spielen, kein Augenblick, in dem Leute lachen und reden, kein guter Moment wird danach noch verschmäht. So jung kommen wir nämlich nicht mehr zusammen. Und Abschiede, die brüsk verlaufen, ohne ein nettes Wort, am Bahnhof, auf der Strasse, eilig und gehetzt, machen staunen, sind wie kleine Pfeile, die sich in die Haut bohren. Wie kann man sich kaum Tschüss sagen, herzlos auseinandergehen? Als könnte man in süffiger Selbstverständlichkeit davon ausgehen, sich wieder zu begegnen.

Zwischenräume werden nicht mehr bespielt, der Raum zwischen sich und den anderen, der Raum als Augenblick; stattdessen bleibt man in sich, ausschliesslich in und bei seinem Körper, diesem grossen Ego unserer Zeit. Bin ich krank, trifft mich der Virus, wie geht es mir, komme ich zu spät? Solche Fragen, Gedanken geschehen nicht nur im Kopf, sie gehen ins Feld; sie konstituieren unsere Realität. Diese besteht aus Räumen zwischen Körpern. Dort findet Leben statt – oder erlahmt es. Wie deutlich wurde das mit Corona: Wenn das Gegenüber zum potentiellen Krankheitsträger und -überträger, zum Todesengel wird – und den Raum zwischen mir und dem Anderen verseucht. Aber ist es nicht immer so, dass wir uns entweder gegenseitig zerstören oder beglücken können? Das Gegenüber ist auch potentieller Glücksbringer, mit ihm kann ich den Augenblick greifen. Das Furchtbare an Corona ist nicht die Potenz des Todes, die sich deutlicher zeigt, sondern dass wir die Räume zwischen uns negativ bespielen und uns damit nehmen, was uns ausmacht: eine Anreihung von Augenblicken, zwischen einem Hier und Dort, jetzt; Corona hin oder her. Ein Freund von mir, Levy, sagt über seine Heimat: Man wisse nie, wie der nächste Tag aussehe, also bleibe man entspannt.

Durch Corona und den Lockdown rückte und rückt der Tod vermeintlich nah, wird konkret – für alle; plötzlich ahnen wir als Gesellschaft, ahnen wir gemeinsam, dass das Leben endlich ist. Dass es unsicher ist. Na und? Dass nichts beständig ist – wie traurig, wie tröstlich, sagte Karl Heinrich Waggerl zur schwankenden Gegenwart. Auf einmal sind wir uns alle ähnlich, mehr denn je und zugleich wie immer schon – so unterschiedlich Glück, Liebe und Wohlstand unter uns auch verteilt sein mögen. Vielleicht erleben wir mit dem Virus auch, oder werden zumindest eindrücklich daran erinnert: Dass der Augenblick alles ist, was wir in Händen haben. Sich gegenseitig Zeit, Geduld und ein Gespräch schenken, ist eine Hommage ans Leben. Carpe Diem, kein Kitschwort, nicht hedonistisch, sondern ein gekonnter Tanz mit dem Tod. Die Sonnentage während des Lockdowns, der explodierende Frühling 2020, Blumen, Blätter, Tiere, Wälder, Balkone, leere Bahnhöfe, der kondensstrei- fenfreie Himmel, die Entschleunigung und die Angst vieler um die finanzielle und gesundheitliche Existenz: Als wär man auf Drogen gewesen. Vor allem aber wars das deutliche Gefühl: «endlich zu sein». Vielleicht bleibts nur ein Wunsch, dass wir das hinübertragen, jeden Tag, ab jetzt.